Demografie und Zukunftsentwicklung der Stadt Wiehl: Viele Alte – wenig Junge?

(2. April 2011) Der Themenabend der Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Wiehl-Hüttenstraße am 25. März war keine Märchenstunde, obwohl Bürgermeister Werner Becker-Blonigen seinen Vortrag mit einem selbst verfassten Zukunftsmärchen begann.
Bürgermeister Werner Becker-Blonigen - Fotos: Christian MelzerBürgermeister Werner Becker-Blonigen - Fotos: Christian Melzer „Es gab einmal ein Siedlungsgebiet mitten in Europa, im Norden begrenzt durch das Meer, im Süden durch die Alpen, im Osten und Westen durch große Flüsse, in dem die deutsche Sprache gesprochen wurde. Viele Einflüsse und viele Menschen kamen hier zusammen. Sie entwickelten immer wieder kulturelle, technische und wirtschaftliche Höchstleistungen, die in aller Welt Anerkennung fanden. Die geistigen Wurzeln der Reformation, der Aufklärung und der sozialen Bewegungen hatten hier ihren Nährboden. Leider führten sie auch schreckliche Auseinandersetzungen um Religion und Macht. Im 20. Jahrhundert waren sie sogar maßgeblich an Krieg und Völkermord beteiligt. Danach wurden sie geteilt, bauten neue Gesellschaften auf und wurden nach und nach eine geeinte, stabile Demokratie. Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts brach die Vorstellung, sich nicht mehr oder nur begrenzt fortpflanzen zu wollen sich ihre Bahn. Die Familie und der Kinderreichtum waren nicht mehr angesagt. Die Bevölkerung begann zu schrumpfen, die Todesfälle überstiegen die Geburten. Bald wanderten auch mehr Menschen aus als einwanderten, zumal die, die etwas auf die Beine stellen wollten. Siedlungsräume verödeten und einst lebendige Landschaften wurden menschenleer. Nachdem sich die Bevölkerung Mitte des 21. Jahrhunderts bereits um ein Drittel reduziert hatte und die Mehrzahl über 51 Jahre alt war, schrumpfte sie bis zum Jahre 2100 von einst 82 Mio. auf nur noch 26 Mio. Heute, im Jahre 2150, erinnern nur noch wenige Gebiete an Rhein und Donau im Alpenvorland und auf der schwäbischen Alb an die ehemaligen Siedlungsstrukturen. Die deutsche Sprache wurde jüngst zum UNESCO-Kulturerbe erklärt und die Errungenschaften deutscher Kunst und Kultur, deutscher Dichtung und Philosophie, deutscher Wirtschaft und Technik sind heute in vielen Teilen der Welt, vor allem in Asien und Südamerika, zu Hause.“

Über 80 Besucher finden zum Themenabend in der Hüttenstraße, obwohl es in der Stadt an diesem Abend viele andere und große kulturelle Angebote gibt. Siegfried Wolf begrüßt – darüber sehr erfreut – herzlich alle Besucherinnen und Besucher, besonders aber den Gastreferenten, Werner Becker-Blonigen, der in Begleitung seiner Frau Bettina und Tochter Anna gekommen ist. Es ist ein Thema, mit dem sich „unser“ Bürgermeister schon seit langem und sehr leidenschaftlich befasst. Er weist auf eine Menge Informationsmaterial hin, das er mitgebracht hat. Um es vorweg zu sagen, er schafft es ganz schnell, alle Zuhörerinnen und Zuhörer – und hier waren erfreulicherweise alle Generationen vertreten – in seinen Bann zu ziehen und das komplexe Thema kurzweilig und mit der angesagten Brisanz ‘rüberzubringen.

Seit etwa hundert Jahren wird die demografische Entwicklung der Menschheit wissenschaftlich erhoben und ausgewertet. Wenn es keine einschneidenden Ereignisse gibt, werden Mitte dieses Jahrhunderts 9 Milliarden Menschen auf der Welt leben, danach wird eine Schrumpfung eintreten – wir stehen bereits am Anfang dieses Prozesses. Die Weichen für die nächsten 50 Jahre sind gestellt. Im Jahr 2050 wird die Hälfte der Menschen über 51 Jahre alt sein. Auch ein starker Anstieg der Geburten kann uns nicht vor der Schrumpfung bewahren. Wenn ein demografischer Prozess ein Viertel Jahrhundert „in die falsche Richtung“ läuft, braucht die Umkehrdauer 3 Viertel Jahrhunderte.

Was bedeutet das für uns? Ganze Siedlungsräume werden mit der Zeit entleert, so schon zu sehen in der Mittelrhein-Gegend. Zuwächse gewinnen kann man nur durch „Wanderungsbewegungen“, die zu Lasten der schwächeren Regionen gehen. Das sieht man auch schon im Oberbergischen, wenn Schulen im Wettbewerb um Schülerzahlen um ihre Existenz kämpfen und dafür sogar vor Gericht ziehen. Was kann eine Gesellschaft tun, wenn der Anteil der immer älter werdenden Menschen immer höher wird. In Wiehl werden in 20 Jahren 40 % der Einwohner über 60 Jahre alt sein und 20 % unter 20.

Die Landesregierung NRW hat das Migrationsverhalten der Bevölkerung für die Jahre 2008-2030 untersucht. In NRW sind erhebliche Entwicklungsunterschiede zu sehen. Im Regierungsbezirk Köln wird der Oberbergische Kreis mit ca. 8 % den größten Einwohnerrückgang haben; allein Köln wird von einem Zuwachs profitieren. Der Trend junger Familien, aufs Land zu gehen, hat sich verändert. Jungen Menschen erscheint heute das Leben in den Großstädten wesentlich attraktiver. 2010 betrug die Einwohnerzahl in Wiehl 25.497 und wird sich bis 2030 auf 24.680 verringern. Zuwächse gab es in den vergangenen Jahren nur durch Migration, während die Geburtenzahl unter der Sterberate liegt. In Zukunft kann man mit 200 Geburten pro Jahr rechnen. Während seiner Amtszeit sind etwa 7000 Menschen in Wiehl zugewandert, darunter viele Ausländer, die man aber zumeist als solche nicht mehr wahrnimmt. Sie konnten zum Wohl der ganzen Stadt gut integriert werden.

20-40-jährige gehen in die Städte zum Studium und zur Ausbildung. Sie siedeln sich dort an und bleiben oder wohnen z. B. „auf halber Strecke“ zwischen Wiehl und Köln. Die Frage stellt sich, wie man sich auf junge Menschen und Familien einstellen kann, damit der Anreiz, hier zu wohnen, größer wird. Unsere infrastrukturellen Einrichtungen, vor allem für Kinder und Jugendliche werden Probleme bekommen. Schulen haben weniger Schüler, die Eingangsklassen in den Grundschulen werden weniger, die Wiehler Vereine werden 20-30 % weniger Kinder haben, Berufe, die mit Kindern zu tun haben, werden die Folgen der Schrumpfung spüren: von der Hebamme über die Kinderärzte, Kinderbetreuung, Kinderbekleidungsgeschäfte, Fahrschulen usw., während der Betreuungsbedarf für Senioren, zunehmen wird.

Eine wichtige Aufgabe ist die Ausbildung von Jugendlichen, die keinen Bildungsabschluss erreichen können. Hier will sich z. B. die Bergische Achsenfabrik mit einem Sonderprogramm engagieren. Wir können es uns nicht (mehr) leisten, junge Menschen außen vor zu lassen. Der Nachwuchs muss ausgebildet werden.

Sorgen macht der Einwohnerrückgang auch im Hinblick auf zukünftig leerstehenden Wohnraum. Es darf nicht passieren, dass ganze Orte oder Ortsteile veröden. Bei einem Rückgang von 2000 Einwohnern würden etwa 700-800 Wohneinheiten leer stehen. Eine schlechte Lage oder die falsche Ausstattung werden eine Immobilie wertlos machen. Bei sinkender Bevölkerungszahl werden die Menschen sich in Richtung der Ballungsräume bewegen, wo alle notwendigen und gewünschten Angebote vorhanden sind. Die öffentliche und private Wirtschaft wird es spüren: (Zu) große Kanal- und Leitungsnetze müssen unterhalten werden; Banken und Versicherungen können nicht mehr so viel ihrer Produkte verkaufen usw. Die Herausforderung: Es muss eine Entwicklung eingeleitet werden, die das Schlimmste verhindert. Wie gehen wir mit einer nicht mehr wachsenden und immer älter werdenden Gesellschaft um? Wie können wir eine ökonomische und ökologische Selbstbestimmung erhalten?

Oberberg und Wiehl sind nicht Stadt und nicht Land, wir sind eine kleinräumige Region, in der es in kleiner Größenordnung alles gegeben hat; Strukturwandel wurde überstanden und bewältigt. Die Menschen packen an und stellen sich dem Wandel. Allein in Wiehl gibt es 10.000 versicherungspflichtige Arbeitsplätze. Es gibt Perspektiven. Die Zentren sollen weiter entwickelt werden, zurzeit arbeitet man an einem Konzept für die Hauptorte Wiehl und Bielstein, um herauszufinden, wie die Anforderungen an eine Stadt sind, die ein wenig schrumpft und älter wird. Kann man sich nur am „eigenen Kirchturm“ ausrichten oder sind Kooperationen wichtig, um sich den veränderten demografischen Bedingungen anzupassen? Das wird noch vieler Gespräche bedürfen und viele Emotionen auslösen. Wir müssen weltoffen bleiben und uns an eine leichte Migration gewöhnen, wenn im Mai die Freizügigkeit (Wahl des Arbeitsplatzes in Europa) eintritt und z. B. die Altenpflegerin aus Polen ganz legal hier arbeiten kann. Wir können eine „Komm-Kultur“ entwickeln. Soziale Netzwerke müssen gestärkt werden, ehrenamtliche Mitarbeit muss sich weiter entwickeln und junge und alte Menschen müssen miteinander Solidarität praktizieren.

Das Ziel für die Stadt Wiehl: Mit unseren 51 Dörfern werden wir hoffentlich ein Ja zu Kindern, zu Familien haben und damit Menschen anlocken, Mitglied unserer Gemeinschaft zu werden. Wir werden kleiner, älter, vielleicht auch bunter. Soweit die Ausführungen des Bürgermeisters, die uns sehr nachdenklich stimmen.

Nach einer kurzen Pause gibt es reichlich Gelegenheit zu Rückfragen. Eine Auswahl der angesprochenen Bereiche: Sport (es bleibt demnächst der Nachwuchs aus); Kultur pflegen (gutes Angebot in der Stadt: Burg in Bielstein, Musikschule, Schauspielstudio u.v.a.); Arbeitsmöglichkeiten für junge Menschen anbieten (in Bildung investieren, Kooperationen zwischen Eltern, Schülern und Betrieben). Situation der Kirchen in Wiehl (1979: 93 % Kirchenmitglieder, heute 25-30 % weniger); Bildungs(ab)wanderung (Anreize schaffen, um zurückzukommen). (Es soll eine Stiftung von 14-15 Firmen gegründet werden mit dem Motto „Ein Bein in Wiehl“, die Patenschaften für junge Leute in der Ausbildung übernehmen will). Was erwartet ältere und alte Leute? („Oase“ besteht als Angebot, Hilfe zur Selbsthilfe wichtig; Netzwerke müssen gebildet bzw. verstärkt werden; der Reichtum an Wissen und Erfahrung muss weitergegeben werden; Kunst und Kultur sind in der Stadt vorhanden; Probleme der „alt gewordenen“ Siedlungen/zentrales Wohnen?)

Waltraud Ruland dankt Bürgermeister Werner Becker-Blonigen im Namen der Gemeinde und aller Besucher für sein Kommen und den überaus informativen Vortrag.

Zwei Stunden, wie im Flug vergangen. Der Arbeitskreis Themenabend wird in Kürze überlegen, wie es weitergeht.

Iris Hermann