„Winternähe“ - Interessanter Leseabend mit Mirna Funk

(11. Oktober 2017) Der Freundeskreis Wiehl-Jokneam veranstaltete am 12. September einen Leseabend mit Mirna Funk.
Mirna Funk und Gerhard HermannMirna Funk und Gerhard Hermann Gerhard Hermann gab den rund 25 Zuhörern einige biographische Information zu Mirna Funk. Die Tochter eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter wurde 1981 in Ostberlin geboren, studierte Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitet in der Kommunikationsbranche.

„Winternähe“, erschienen 2015 im „S. Fischer-Verlag“, ihr bisher einziger veröffentlichter Roman, sorgte nach dem Erscheinen für viel Aufmerksamkeit. Neben der Auszeichnung mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis war das Werk für weitere Preise nominiert und sorgte für viel mediale Aufmerksamkeit. Unter anderem entstand ein Dokumentarfilm des Filmemachers und Journalisten Uri Schneider „Jude. Deutscher. Ein Problem?“ mit Mirna Funk in Berlin und Tel Aviv.

Mirna Funk übernimmt das Wort. „Ich weiß noch gar nicht was ich lese…“. Nach dem Erscheinen des Buches vor 2 Jahren sei sie fast die ganze Zeit unterwegs und hätte immer die gleichen Passagen gelesen. „Heute lese ich etwas, was ich noch nie gelesen habe!“.

Auf jeden Fall sei etwas aus allen drei Teilen des Buches (Berlin, Tel Aviv und Bangkok) dabei. „Winternähe“ sei ein komplexer Roman, sowohl Familien- als auch Liebesgeschichte. Es handele vom Lebensgefühl eines jüdischen Deutschen ebenso wie vom palästinensisch-israelischem Konflikt…

Dann liest sie, zuerst aus dem „Berliner Teil“:

Kapitel 4, S. 41-45:

Lola in einer Kindheitserinnerung: -wie die Autorin in den 80zigern in Ostberlin aufgewachsen. An einem Nachmittag im Mai 1987 erlebt sie einen der seltenen Augenblicke mit ihrem Vater. Bei einem Versteckspiel „in Hinterhof“ soll die ca. 6-jährige Lola Simon, der 2 Jahre „verschwunden war“, finden und „versagt“. Simon reagiert verärgert und Lola wünscht sich „dass sie die Zeit anhalten und alles anders machen“ könnte. Der kostbare Moment mit dem Vater war verdorben….

Kapitel 5, S. 46-50:

Etwas später: Lola lauscht als ihre Großmutter Hannah in einem Telefonat erfährt, dass Simon nach Westberlin geflüchtet ist. Hannah erklärt Lola, dass ihr Vater nun in West-Berlin ist und erklärt dem Kind, das die Bedeutung nicht erfasst: „Lola, man kann nicht nach Westberlin. Westberlin ist auf der anderen Seite der Mauer. Die DDR ist drum herum.“. Lola fragt sich den Rest des Tages „Wo ist Westberlin?“ und versucht sich Simon an diesem merkwürdigen unvorstellbaren Ort, „zu dem keiner kann“ vorzustellen. Am nächsten Morgen um 5 Uhr schreckt Lola aus dem Schlaf, schaut aus dem Fenster und kombiniert, dass Westberlin im Westen liegen müsse, „da wo die Sonne unterging“. „Sie drückt ihre Nase am Fenster platt, atmet gegen die Scheibe und schreibt ‚Papa‘ auf das beschlagene Glas.“

Mirna Funk liest nun etwas aus dem „Tel-Aviv“-Teil:

Hier erführe man etwas über Shlomo, Lolas Gefährten, so Funk einleitend. Tel Aviv im Juni 2014, kurz vor Ausbruch des Gaza-Konfliktes im Juli: noch herrscht relativer Frieden. Die drei Talmud-Schüler, deren Ermordung der Auslöser für den Konflikt sein wird, gelten als entführt aber es gibt noch keine genaueren Informationen über ihr Schicksal. Lola ist aus drei Gründen nach Tel Aviv gefahren: sie möchte ihren Großvater Gershon besuchen, der nach dem Tod von Hannah wieder in Israel lebt. Zudem sucht sie Abstand nachdem sie in Berlin antisemitische Vorfälle erleben muss und nicht zuletzt ist sie ihrer Liebe Shlomo nachgereist. Die folgende Szene beschreibt den ersten Abend mit Shlomo in Tel Aviv:

Kapitel 3, Seite 147-150:

Lola und Shlomo gehen in eine Bar, wo sie sich mit Freunden von Shlomo treffen. Shlomos bester Freund Oked bittet Lola zu sich, während Shlomo sich mit einer alten Freundin unterhält. Von Partydrogen enthemmt, erzählt Oked ein Geheimnis über Shlomo, das Lola eine unbekannte Seite von Shlomo offenbart. Wir erfahren, dass Shlomo und Oked bei einer israelischen Spezialeinheit des israelischen Militärs waren. Ihr Befehl führt sie auch in das Westjordanland, wo sie an vorderster „Front“ und mit Härte den „palästinensischen Aufstand“ bekämpfen. Shlomo, ein fähiger Truppführer, tötet eines Tages unbeabsichtigt einen palästinensischen Jungen durch einen unglücklichen Gummigeschoss-Treffer. Dieses wirft ihn aus der Bahn und ein Zwischenfall ein paar Tage später, bei dem sie in einer gefährlichen Situation mit bewaffneten Palästinensern sind, wirft er plötzlich sein Gewehr und seine Schutzweste weg, entkleidet sich und muss von seinem Trupp gerettet werden. „Er kam nie wieder zurück zur Armee“ endet der freimütige Bericht Okeds.

Kapitel 4, Seite 151-153:

Lola sieht Shlomo, der nicht ahnte, was Lola über ihn erfahren hatte, jetzt mit anderen Augen. Shlomo, den sie in allen Lebenslagen sah war in Lolas Augen ein Mörder „ob er den Tod des Jungen vorsätzlich verursacht hatte oder nicht“: „Wie lacht ein Mörder, wenn er sehr laut lachen muss?“

Dennoch war Lolas Blick auf Shlomo „frei von Verurteilung“. „Ihre Gefühle für ihn hatten sich [..] nicht verändert. Im Gegenteil: Es gab eine neue Dimension in ihm, die ihn fragiler machte.“

Erneut wechselt Mirna Funks Leseauswahl die Szenerie: der Kriegssommer 2014 führt zu einem (schrecklichen) Ereignis, so dass Lola im September 2014 für 5 Wochen nach Thailand flieht. Lola, professionelle Fotografin, bekommt den Auftrag ein Event in Bangkok in Szene zu setzen. Bei der Konzeptvorstellung des „wohlhabenden Thailänders“, der sich mit seinem „Concept Store“ einen „Traum erfüllt“, inmitten von für die Fotografen posierenden „IT-Girls“, lernt Lola Tracey kennen.

Kapitel 11, Seite 333-337:

Nach der Veranstaltung verlassen Lola und Tracey gemeinsam den „Store“. Nach einer kurzen Wegstrecke lassen sie sich mutig an einem kleinen Suppenstand nieder und bestellten Nudelsuppe „in denen abgeschlagene Hühnerfüße schwammen“. Tracey spricht Lola auf ihre Zeit in Tel Aviv an. Es stellt sich heraus, dass Tracey eine Palästinenserin aus Bethlehem ist. „ ‚Weißt du, dass du meine erste Palästinenserin bist?“. Lolas und Traceys Versuch mit dieser für beide schwierigen Situation umzugehen endet in der Erkenntnis Traceys: „ ‚Guck, wir sind nur zwei Frauen, die ein Facial und eine Massage wollen. Und das können wir auch bleiben. Zwei Frauen. Nicht eine Jüdin und eine Palästinenserin.“

Rückflug, Lolas Flugzeug kurz vor der Landung in Berlin. „Lola fühlte, dass dieses Flugzeug plötzlich nicht nur erfüllt von den Gedanken der Passagiere war, sondern erfüllt von Ihrer Geschichtlichkeit.“

Damit beendet Mirna Funk ihren Leseteil und steht für eine lebhafte Fragerunde zur Verfügung. Schnell kommen Fragen zum Thema „autobiographischer Anteil des Romans“ auf, warum dieser Roman „radikal“ oder „komplex“ sei, zur Rolle und zum Eigenverständnis der „DDR-Juden“, ob sie Ideen für weitere Romane habe…. Mirna Funk beschreibt den Schaffensprozess und dass sie sich danach darauf gefreut habe in ihr „normales Leben“ mit ihrer kleinen Tochter zurückzukehren.

Den Buchtitel „Winternähe“ erklärt sie so: „Winternähe beschreibt eine Form einer schwierigen Beziehung, eine Beziehung, die kalt, unangenehm und schwierig ist, der wir uns aber stellen müssen. Die lebensnotwendig für uns ist. Und nur durch diese Nähe können wir uns im Winter wärmen…. Beispiele für Winternähe wären die Beziehungen zwischen ‚Deutschen‘ und Juden; Israelis und Palästinensern oder aber auch von Shlomo und dem palästinensischen Jungen.“

Peter Hühn