Neujahrsansprache von Herrn Werner Becker-Blonigen
Sehr geehrte Gäste,meine sehr verehrten Damen,
sehr geehrte Herren,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich freue mich, auch im Namen meiner beiden Vizebürgermeisterinnen, Bianka Bödecker und Angelika Banek, heute Abend zahlreiche Gäste von außerhalb und zahlreiche Mitbürgerinnen und Mitbürger aus den unterschiedlichsten Verantwortungsbereichen in unserer Stadt begrüßen zu dürfen.
Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich war versucht, den heutigen Abend weitgehend in "Lockerheit" zu absolvieren und die Worte zum neuen Jahr, die vom Bürgermeister erwartet werden, eher im Plauderton oder in Form eines Conferenciervortrages vorzutragen. Nachdem mich gutmeinende Ratgeberinnen überzeugt haben, wähle ich nun wieder das Rednerpult und möchte versuchen, mit Ihnen gemeinsam dem angebrochenen Jahr 2004 Gutes abzugewinnen.
Bürgermeister Becker-Blonigen bei der Neujahrsansprache Es wäre so schön, könnte man endlich wieder, wie in früheren Zeiten, zuverlässig prognostizierbare Leitplanken der voraussichtlichen Entwicklung aufzeichnen. Aber dem ist nicht so und die Zeiten sind nicht danach. Wer sich mit der Geschichte der Menschheit beschäftigt, weiß, dass Entwicklungen in Zyklen verlaufen. Mal sind sie länger, mal kürzer, mal sind sie aus der rückwärtigen Betrachtung ruhiger und strukturierter und ein anderes Mal unruhiger, wirrer, unsicherer. Diese Unsicherheit ist es, die uns Deutschen so unendlich viele Probleme bereitet, denn wir lieben an sich die sichere Kalkulierbarkeit, die mathematische Steuerbarkeit, die Organisierbarkeit und das Beherrschen und Disponieren aller Lebenssachverhalte. Aber so ist das Leben nicht und die Entwicklung der Welt schon gar nicht. Der technische Wandel in allen Bereichen verändert immer noch unsere Lebensverhältnisse. Wir sind mitten drin in einem Prozess der heftigen Veränderung, des Näherrückens von weltweiten Entwicklungen und weltweiten Beziehungen. Dann kommt auch noch Europa mit seiner zum Teil schwer erträglichen Bürokratie, deren Segen demnächst auf unsere osteuropäischen Nachbarstaaten herabprasseln wird. Mittlerweile wird auch noch die Bevölkerung unstet. Jährlich wandern Hunderttausende nach Deutschland zu und Hunderttausende verlassen dies Land. Zum Teil sind es dieselben, aber häufig auch nicht. In zehn Jahren haben Millionen dieses Land verlassen und Millionen sind neu hinzugekommen. Dazu kommt die längere Lebenserwartung und der Geburtenrückgang. Alles dies lässt die Gewohnheit, die Vertrautheit, die Berechenbarkeit unseres Lebensalltages und unsere gesellschaftspolitische Realität ins Wanken bringen.
Diese Veränderung ökonomischer und sozialer Realitäten verlangt eine Ummöblierung unserer Gesellschaft. Dabei helfen uns kleine Korrekturen nicht weiter. Aber wie will man all diese Veränderungen und Konsequenzen in all ihrer Verästelung und Vielschichtigkeit den Menschen in all ihren täglichen Sorgen und das Leben ausfüllenden Beschäftigungen verdeutlichen? Wie sehr sind wir in unserer Gesellschaft bereits in tausend Einzelinteressen fokussiert, um überhaupt noch eine Gemeinschaftsbeziehung wahrnehmen zu können? Wir kommen überhaupt nicht mehr drumherum, eine allumfassende Wertediskussion, eine allumfassende Identitätsdebatte und ein groß angelegtes gesellschaftliches Gespräch über die Zukunft unserer staatlichen Gemeinschaft zu führen. Zugleich befinden wir uns in einem Wettbewerb der nationalen, sozialen und ökonomischen Systeme sowie der Kultur- und Mentalitätsgemeinschaften innerhalb Europas und auch noch darüber hinaus mit der großen übrigen Welt. Allein die Reduzierung der Gesellschaft in gut und böse, in lieb und schlecht, in schwarz, rot oder kariert nützt niemandem, außer denjenigen, die sich am politischen Geländespiel erfreuen. Es geht immer mehr um das "Wir", obwohl wir alle noch viel zu sehr mit dem "Ich" beschäftigt sind. Und es kling vielleicht profan, aber unsere Kinderunfreundlichkeit, besser Familienunfreundlichkeit, die sich mit jedem Schritt der Verwöhnung oder Vernachlässigung als falsches Erwachsenenverhalten dokumentiert, wird ein Ende nehmen müssen, weil es diese Gesellschaft sonst am Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr geben wird.
Es klingt jetzt schnöde, wenn ich gesunde Finanzen als Gestaltungsvoraussetzungen und als Verpflichtung gegenüber der nachfolgenden Generation an diesen Gedanken anfüge. Aber gesunde Finanzen sind der Ausdruck des verantwortungsvollen und vernünftigen Umgangs mit den Ressourcen und der Wertschöpfung, die in einem Gemeinwesen erwirtschaftet werden. Ein indianischer Grundsatz lautete einmal: "Wirtschafte so, dass Du sieben Generationen ernähren kannst." Aber auch altdeutsche Grundsätze, die aus langen Jahrhunderten der Lebenserfahrung herrühren, mahnen uns zur Nachhaltigkeit, zur Solidität und zur Vorsorge.
Aber was nützt es alles. Wir geben seit langem leider auf allen Ebenen staatlichen Handelns mehr Geld aus, als wir einnehmen. Die sogenannte Nettokreditaufnahme, die mittlerweile abenteuerliche Größenordnungen erreicht hat, belastet bis weit in dieses Jahrhundert hinein unsere nachfolgenden Generationen. Was immer wir heute sanieren und reformieren wollen, es nützt nicht mehr unseren Kindern, vielleicht den Enkeln, hoffentlich den Urenkeln. Unter diesem Aspekt müssen wir alle Diskussionen, um Steuer und Gemeindefinanzreformen, um Reformen der Bund- Länder- Finanzbeziehungen, der Finanzierung Europas und der Diskussion über die Frage, welche Staats- und Kommunalen Ausgaben entbehrlich und welche Zukunftsinvestitionen dringend notwendig sind, sehen.
Auch wenn die Reformen unseres öffentlichen Finanzwesens gerade wegen der selbst geschaffenen Kompliziertheit so schwierig erscheinen, müssen sie dennoch geradezu als "Umbau unter laufendem Betrieb" weiter offen und ehrlich voran getrieben werden. Aber vergessen wir bitte nicht, dass lokale Gestaltungsmöglichkeiten und blühende Kommunen der zuverlässige Indikator für eine lebendige Demokratie sind. Grosse Paläste bauen Diktatoren meist besser.
Bürgermeister Becker-Blonigen Das zweite große unerledigte Kapitel in Deutschland ist die überentwickelte Bürokratie. Es bleibt eine Daueraufgabe, in allen Bereichen unserer Gesellschaft für eine Reduzierung des Verwaltungs- und Regelungsaufwandes zu sorgen. Abgesehen von den viel zu hohen Transferkosten, die nun mal durch die Bürokratie ausgelöst werden, hat Bürokratie auch für alle Entscheider und für alle Gestalter in unserer Gesellschaft eine verhängnisvolle Filterwirkung. Auf dem Wege von der Entscheidung zur Umsetzung verursacht sie derartige Ablenkungen und Verwinkelungen, dass das Gewollte mit dem Erzielten oftmals nicht mehr in Einklang steht, manchmal sogar das Gegenteil bewirkt. Wenn wir aber Regelung und Überwachung verkürzen wollen, dann muss Freiheit und Verantwortung an ihre Stelle treten. Zu oft wird hierunter Maßlosigkeit nach dem Grundsatz "Jeder schafft sich seine Gesetze selbst" verstanden. Dieses Phänomen hat weite Teile der Gesellschaft erfasst, wird ökonomisch und medial ausgeschöpft, denn anders kann man die Produktwerbung und viele Fernsehsendungen kaum noch verstehen, aber es führt letztlich zu einer kleinkarierten Mittelmäßigkeit, die gesellschaftspolitisch alles andere als wünschenswert ist. Daher wollen wir in Wiehl in den kommenden Jahren versuchen, unseren Teil dazu beizutragen, dass kommunale Regelungen nur das regeln, was von der Zielsetzung her notwendig ist und nicht, was einem sonst noch alles bei der Gelegenheit einfällt. Der Verzicht auf obrigkeitliche Regelungsperfektion bedingt allerdings die Hinnahme von Unvollkommenheit. Daher sollten wir wieder lernen, einander zu ertragen und darauf zu verzichten, bei allem und jedem nach der Stadt oder dem Staat zu rufen, denn auch die Erfüllung von Forderungen und Ansprüchen haben zu dem geführt, was wir heute beklagen.
Wir in Wiehl wollen in den kommenden Jahren dafür Sorge tragen, dass Arbeit und Einkommen für die Menschen in unserer Stadt und unserer Region angeboten werden können und zwar durch Standortsicherung, Standorterweiterung und die Neuansiedlung von Betrieben. Attraktives Wohnen für unterschiedlichste Einkommensverhältnisse, unterschiedlichste Wohnansprüche, für jung und alt, von der Etage bis zum freistehenden Einfamilienhaus, soll in den einundfünfzig Ortschaften unserer Stadt auch morgen möglich sein. Dazu gehört natürlich auch der Einkauf in der Nähe, das Kulturerlebnis, der Freizeitaufenthalt, die Gelegenheit zu sportlicher Betätigung, zu Aus- und Weiterbildung und ein kinderfreundliches Umfeld. Wiehl bleibt eine Stadt in sozialer Verantwortung, auch geprägt durch den christlichen Glauben in den unterschiedlichsten Ausprägungen, die nicht ausschließen, sondern offen bleiben und Neues nicht abwehren. Wiehl hat einundfünfzig Dörfer mit zahlreichen Vereinen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten das Gemeinschaftsleben gestalten, den Zusammenhalt der Menschen fördern und unserer Stadt ein Gesicht und eine Seele geben.
Die Stadt Wiehl ist und bleibt eine Stadt des Aufbruchs, der Zuversicht und der guten Zukunft. Und immer wieder wird es neue Höhepunkte, neue Jubiläen, neue Gründe für Fröhlichkeit und Stolz geben. Ganz besonders freuen wir uns dieses Jahr über die Einweihung der Sporthalle am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium und natürlich über den Besuch des Bundespräsidenten Johannes Rau.
Wir wollen in Wiehl auch im Wahljahr unsere Grundsätze beherzigen und mit unserer Art zu wirtschaften, dem Stadtrat eine Gestaltungsplattform erhalten, die die Vorraussetzungen dafür schafft, um Bürgermeinung nicht nur einzuholen und ernst zu nehmen, sondern ihr auch gerecht zu werden.
Wiehl ist auch in diesem Jahr wie ein Herz, das schlägt. Mal heftiger, mal ruhiger, mal rhythmisch, mal flatternd, mal laut und mal leise.
Uns allen wünsche ich ein gutes Jahr 2004 und Gottes Segen!
Bilderserie
Fotos: Christian Melzer