Tamar Dreifuss spricht über ihre Kindheit im Krieg, über Verfolgung, Tod und großen Mut
Es ist sehr still im Vorraum der Wiehltalhalle. Obwohl an die einhundert Schüler der Stufen 12 und 13 des Dietrich–Bonhoeffer-Gymnasiums dicht gedrängt sitzen, redet niemand. Alle lauschen der Stimme der Frau, die vorn an einem langen Tisch vor dem Mikrofon sitzt und erzählt.
Tamar Dreifuss erzählt ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Familie. Eine Geschichte, die, wie sie selbst sagt, von Wundern geprägt ist.
Organisiert wurde der Vortrag vom Freundeskreis Wiehl/Jokneam und von der Oberbergischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Tamar Dreifuss und der Vorsitzende des Freundeskreises Wiehl/Jokneam Gerhard Hermann
Es ist ein besonderer Tag, wobei das Besondere einen bitteren Geschmack hinterlässt, denn heute jährt sich die Reichspogromnacht (9.11- 10.11.1938), in der die Nationalsozialisten hunderte Juden ermordeten und Synagogen und jüdische Geschäfte zerstörten, zum dreiundsiebzigsten Mal.
Am Tag zuvor hat bereits, wie in jedem Jahr seit 1988, eine Gedenkfeier auf dem Jüdischen Friedhof in Nümbrecht stattgefunden, bei der all den Opfern der Nacht gedacht wurde.
Heute ist Tamar Dreifuss wieder an einer Schule, um das zu tun, was sie sich zur Aufgabe gemacht hat: Ihre Erinnerungen weiterzugeben, um zu verhindern, dass es je wieder etwas Vergleichbares wie den Holocaust geben wird.
Tamar Dreifuss ist in der Reichspogromnacht erst acht Monate alt und lebt mit ihrer Familie in Wilna, einer polnischen Stadt nahe der litauischen Grenze, die auch als „Jerusalem Litauens“ bezeichnet wird. Mehr als ein Viertel der Einwohner Wilnas zu dieser Zeit sind jüdischer Abstammung.
Nach der sowjetischen Machtübernahme in Wilna beginnt der Leidensweg der Familie. Aus Wilna vertrieben, erleben sie kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Jahre 1941 im nahe gelegenen Ponary die Ermordung tausender Juden durch die Nationalsozialisten. Tamar kommt zu ihrer Tante, einer Katholikin, die das Kind taufen lässt. Die Familie glaubt, sie so schützen zu können, aber die Tarnung fliegt auf und Tamar kommt zurück zu ihren Eltern – ins Ghetto von Wilna. Über die Zeit im Ghetto wird Tamars Mutter, Jetta Schapiro-Rosenzweig, in ihrem Buch „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“ schreiben, welches die Tochter aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt.
Im September 1943 wird das Ghetto aufgelöst, der Vater verschleppt, Mutter und Tochter werden auf Viehwagons fortgebracht.
Doch Tamars Mutter schafft das Unmögliche: Trotz brutaler Strafen gelingt ihr schließlich die Flucht. Zu zweit schlagen sie sich, als Russinnen getarnt, durch. Auf dem letzten Hof schließlich ist es ein bissiger Hund, der den beiden das Leben rettet. Die Mutter hat das aggressive Tier über viele Tage hinweg erzogen und es vertraut ihr. Als Partisanen, die Mutter und Tochter jagen, auf den Hof kommen, harren die beiden zwei Tage lang in der Hundehütte aus, ohne dass sie entdeckt werden. Über dieses Wunder hat Tamar Dreifuss ein Kinderbuch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar – 1944“ geschrieben.
„Wir können es nicht ändern, aber die Zukunft soll anders werden.“
Der Vortrag stellt eine Verbindung her zu einer Zeit, die heute so unvorstellbar scheint, und doch gerade einmal etwas mehr als dreiundsiebzig Jahre zurückliegt. Tamar Dreifuss konnte sich nie vorstellen, aus Israel, dem Land, in das sie 1948 auswanderte, wieder nach Deutschland zurückzukehren, doch sie tat es. Mit ihrem Mann, der in Köln studierte, wagte sie das für viele Undenkbare und zog zurück nach Deutschland.
Nun ist die ausgebildete Erzieherin wieder hier und erzählt. Erzählt von ihren Erlebnissen und den Schrecken ihrer Kindheit, ohne jedoch die Zukunft zu vergessen. „Die Kinder“, sagt sie, „sind nicht schuld. Aber sie haben ein Erbe bekommen und mit diesem Erbe muss man leben.“
„Das wussten alle!“
Auch glaubt sie nicht, an die Unwissenheit der deutschen Bevölkerung zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Sie könne verstehen, wenn man aus Angst nicht gehandelt habe, aber gewusst hätten es alle.
Das Erzählen ist ihre Art, das Erlebte zu verarbeiten. Jeder finde seinen eigenen Weg, um mit der Kriegszeit zurechtzukommen. Ihr Cousin Samuel Bak ist Künstler und lebt in den Staaten. Schon als Kind im Ghetto habe er gemalt, erzählt sie.
Die Frage, ob sie es jetzt verarbeitet habe, verneint sie. „Das kann man nicht verarbeiten.“
Trotz der furchtbaren Erlebnisse habe sie ihren Glauben nie verloren und ihre Kinder zu „stolzen Juden erzogen“, denn „ich muss doch jeden Menschen akzeptieren. Ein Mensch soll ein Mensch sein und Freundschaften sollen entstehen.“
Marieke Neuburg